Arbeits- vs. Leistungszeiterfassung: Ein System?
von Alexander Huber

Ein System für beides – oder besser getrennt?
Wenn projektorientierte Unternehmen Zeiterfassung neu einführen oder modernisieren, taucht fast immer die gleiche Frage auf: Soll die Leistungszeiterfassung (Projekt-, Task-, “billable” Zeit) und die Anwesenheitszeiterfassung (Arbeitszeit, Pausen, Abwesenheiten) in einem System stattfinden, oder bewusst getrennt werden?
Die Antwort ist seltener eine Tool-Frage als eine Frage von Zweck, Rollen, Datenschutz und Governance. Dieser Beitrag bündelt aktuelle Fakten, rechtliche Leitplanken und Erfahrungen aus IT-Dienstleistungsprojekten in DACH.
1) Status quo: Wie verbreitet ist Zeiterfassung in DE & AT?
- Deutschland: Laut einer Bitkom-Erhebung (06/2025) erfassen 74 % der Unternehmen die Arbeitszeit, weitere 26 % sind in Vorbereitung bzw. nutzen (noch) keine vollumfängliche Lösung. Vor dem BAG-Beschluss 2022 waren es erst 30 %. Der starke Anstieg ist also unmittelbar rechtlich getrieben (Bitkom).
- Deutschland (Qualität der Umsetzung): Eine Analyse der Hans-Böckler-Stiftung betont, dass Zeiterfassung „weit verbreitet, aber teils ohne System“ ist. Besonders in kleineren Betrieben fehlt häufig eine systematische und auswertbare Lösung (Hans-Böckler-Stiftung).
- Kleinbetriebe: Eine (ältere, aber aufschlussreiche) Umfrage zeigt, dass 60 % der Unternehmen < 50 MA ohne Zeiterfassung arbeiten; > 50 MA setzen hingegen zu 92 % zumindest teilweise Zeiterfassung ein – ein deutlicher Größen-Effekt (Telematik-Markt).
- Österreich: Die Pflicht zur Arbeitszeitaufzeichnung ist klar geregelt: § 26 AZG verlangt Aufzeichnungen über geleistete Arbeitsstunden (inkl. Durchrechnungszeitraum). In der Praxis existieren oft Excel/Insellösungen statt echter Auswertungssysteme (RIS § 26 AZG).
- Gesundheit & Arbeitsorganisation: Die BAuA (Arbeitszeitbefragung 2023) berichtet, dass fehlende Erfassung mit Entgrenzung, schlechterem Abschalten und geringerer Zufriedenheit einhergeht. Die Verbreitung nimmt zwar zu, aber der Nutzen hängt von der Qualität des Systems ab (BAuA Bericht kompakt).
Diese Zahlen zeigen: Viele Unternehmen sind noch im Übergang. Genau hier entscheidet die Grundsatzfrage – integrieren oder trennen? Über Akzeptanz, Datenqualität und Steuerbarkeit.
2) Begriffe & Zielbilder: zwei Zeiten, zwei Zwecke
Arbeitszeiterfassung / Anwesenheitszeiterfassung dokumentiert Beginn, Ende, Pausen, Abwesenheiten, Überstunden und dient dem Arbeitsschutz, Payroll und der Compliance. Der EuGH verlangt ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur täglichen Arbeitszeiterfassung (C-55/18) (Curia), das BAG bestätigt die Pflicht zur Einführung eines Systems (1 ABR 22/21) (BAG-Pressemitteilung), und das BMAS konkretisiert FAQs (z. B. zur Anwendbarkeit im Homeoffice) (BMAS FAQ).
Leistungszeiterfassung / Projektzeiterfassung (Task-Zeit, “billable/non-billable”) ordnet Stunden Kunden/Projekten/Aufgaben zu. Das ist die Basis für Abrechnung, Budget-Kontrolle, Forecast, Deckungsbeitrag.
Beide messen Stunden, aber mit unterschiedlichen Zwecken. Arbeitszeit ist rechtliche Pflicht & Schutz, Leistungszeit ist betriebswirtschaftliche Steuerung & Wertschöpfung.
3) Nutzergruppen & Perspektiven (wer braucht was?)
In der Praxis entscheidet weniger die Technik als die Frage, wer mit der Zeiterfassung arbeitet und wofür die Daten gebraucht werden. Unterschiedliche Nutzergruppen verfolgen ganz eigene Ziele – vom rechtssicheren Nachweis bis zur betriebswirtschaftlichen Steuerung.
- Management / Geschäftsführung: möchte einheitliche Kennzahlen (Auslastung, Billability, DB, Overhead) mit minimaler Latenz, idealerweise aus einer Quelle.
- Controlling & Projektleitung: brauchen granulare Leistungsdaten, Verfügbarkeiten und Budgets; HR-Details sind nur insoweit relevant, wie sie Kapazität beeinflussen.
- HR / Payroll / Backoffice: verantworten Gesetze, Ruhezeiten, Zuschläge, Urlaub und benötigen Arbeitszeitdaten in rechtskonformer, auditierbarer Form.
- Operative Mitarbeitende (Dev/Consulting/Field): wollen schnell und friktionsarm Zeiten erfassen, am besten integriert mit Kalender, Ticketsystem oder IDE.
In der Praxis entscheidet weniger die Technik als die Frage, wer mit der Zeiterfassung arbeitet und wofür die Daten gebraucht werden. Unterschiedliche Nutzergruppen verfolgen ganz eigene Ziele, vom rechtssicheren Nachweis bis zur betriebswirtschaftlichen Steuerung.
Konsequenz: Ein integriertes System muss Rollen, Berechtigungen und Sichtbarkeiten fein steuern können; bei getrennten Systemen müssen Schnittstellen und BI sauber aufgesetzt sein, um ein Gesamtbild zu erzeugen.
In der Praxis sehen wir bei Time Cockpit häufig folgendes Muster: Projektleiter benötigen Zugriff darauf, welche Aufgaben und Tätigkeiten im Projekt wie viel Zeit beanspruchen, um Fortschritt und Budget zu steuern. Gleichzeitig dürfen sie keine sensiblen HR-Daten wie Stundensalden, Fehlzeiten oder Abwesenheitsgründe einsehen. Diese Informationen gehören in die Verantwortung des Linienvorgesetzten oder HR-Teams.
Genau diese Trennung lässt sich mit einem feingranularen Berechtigungsmodell technisch sauber und datenschutzkonform abbilden.
4) Ein System für beides – Chancen und Risiken
Ein gemeinsames System für Arbeits- und Leistungszeiterfassung klingt zunächst nach der logischen Wahl: weniger Tools, einheitliche Daten, weniger Reibung. Doch wer beide Welten in einem System abbilden will, muss die Balance zwischen Transparenz, Datenschutz und Komplexität sorgfältig gestalten, sonst wird aus Vereinfachung schnell zusätzlicher Aufwand.
4.1 Warum Integration überzeugt
- Ein Datenmodell: keine Redundanzen, keine widersprüchlichen IDs/Zuordnungen; eine “Single Source of Truth”.
- Echtzeit-Transparenz: Auslastung, Billability, DB, Abwesenheiten und Kapazitäten ohne BI-Latenz.
- Weniger Integrationsaufwand: Payroll/ERP/BI greifen auf eine API zu; weniger Mapping/Fehler.
- Akzeptanz & Effizienz: Mitarbeiter erfassen einmal; Freigaben, Exporte, Audits laufen konsistent.
4.2 Wo Integration anspruchsvoll wird
- Datenschutz & Mitbestimmung: HR-Sensible Daten (z. B. Kranktage, Kommentare) dürfen nicht in Projektreports landen.
- Rechtemodell: Feld- und Report-Maskierungen, Rollen und getrennte Exporte (Payroll vs. Faktura) müssen vor dem Roll-out definiert sein.
- Konfigurationslast: Arbeitszeitregeln (Pausen, Ruhezeiten, Maximalwerte) und Projektlogiken (Sätze, Budgetwarnungen, Freigaben) sind gleichzeitig zu beherrschen.
- Kultur & Vertrauen: Integration muss als Enabler für Transparenz kommuniziert werden, nicht als Überwachung.
5) Getrennte Systeme – Stärken und Trade-offs
Der entgegengesetzte Ansatz besteht darin, Arbeitszeit und Leistungszeit bewusst in getrennten Systemen zu führen. Das schafft klare Zuständigkeiten und kann Datenschutz sowie Mitbestimmung vereinfachen, man erkauft sich diesen Vorteil aber oft mit mehr Schnittstellenarbeit und weniger unmittelbarer Transparenz.
5.1 Warum Trennung sinnvoll sein kann
- Klare Zwecktrennung: HR-Daten bleiben physisch im HR-System; Projekttool fokussiert auf Wertschöpfung.
- Datenschutz leichter: Datenminimierung gelingt organisatorisch; geringeres Risiko, dass HR-Details “durchsickern”.
- Rechtemanagement einfacher: Rollen überlappen weniger; Verantwortlichkeiten sind eindeutig.
- Austauschbarkeit: Tools können modular weiterentwickelt/ersetzt werden.
5.2 Was Trennung erschwert
- Schnittstellen & Sync: Verfügbarkeit, Abwesenheiten, Kapazitäten müssen synchron sein; Fehlerquellen und Latenzen steigen.
- Kein Live-Gesamtbild: KPIs entstehen erst durch BI-Konsolidierung (Zeit, Aufwand).
- Doppelter Betrieb: zwei Lizenzen, zwei Admin-Welten, zwei Support-Ketten.
- Einführungsdauer: zwei Projekte statt einem; längerer organisatorischer Change.
6) Nicht verrechenbare Zeiten: der unterschätzte Hebel
Nicht verrechenbare Zeiten (interne Meetings, Onboarding, Schulungen, Administration) machen in Dienstleistungsfirmen schnell 20–35 % der Gesamtzeit aus. Ohne deren Erfassung wirken Projekte künstlich profitabler, Forecasts zu optimistisch und Kapazitätsplanungen verzerrt.
Ein integriertes Setup macht die Relation verrechenbar : nicht verrechenbar : abwesend sichtbar. Dadurch lassen sich Overhead-Treiber identifizieren und reduzieren.
Mehr Details und Praxis-Tipps: „Nicht verrechenbare Stunden erfassen“ (Time Cockpit Blog).
7) Zusätzliche Aspekte, die die Entscheidung beeinflussen
Neben rechtlichen, organisatorischen und technischen Überlegungen gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Entscheidung zwischen einem oder zwei Systemen maßgeblich beeinflussen, oft ohne, dass sie auf den ersten Blick sichtbar sind. Gerade in dynamischen Arbeitsumfeldern wie der IT-Dienstleistung und projektorientierten Unternehmen spielen Themen wie Agilität, Transparenz, Kultur und Vertrauen eine entscheidende Rolle.
7.1 Recht & Governance (DE/AT)
- EU-Rahmen: EuGH C-55/18 fordert messbare, verlässliche Arbeitszeiterfassung (Curia).
- Deutschland: BAG 1 ABR 22/21 bejaht Einführungspflicht; BMAS präzisiert Fragen (inkl. Remote-Arbeit) (BAG PM; BMAS FAQ).
- Österreich: § 26 AZG schreibt Aufzeichnungen vor (RIS).
- Arbeitswissenschaft: BAuA zeigt Nutzen der Erfassung gegen Entgrenzung (BAuA).
7.2 Agile Arbeitsweisen & Dynamik
Wenn Scope und Prioritäten iterativ wechseln, erlaubt Integration früheres Gegensteuern: Soll/Ist-Vergleiche auf Sprint-Ebene, Burn-Rates, Velocity-Entwicklung, ohne Wochenverzug durch BI-Pipelines.
7.3 “Unsichtbare Arbeit” & Präsentismus
Arbeit, die nirgendwo fällt (Refactoring, Reviews, interne Vorarbeiten), bleibt in getrennten Welten häufig unsichtbar. Ein integriertes Modell macht sie messbar und verhindert Präsentismus-Illusionen (Anwesenheit ≠ Produktivität).
8) Entscheidungshilfe in sechs Schritten
Am Ende läuft jede Diskussion über Zeiterfassung auf eine strategische Kernfrage hinaus: Wie viel Integration verträgt die Organisation und wie viel Trennung braucht sie? Die Erfahrungen aus unserer Praxis zeigen, dass es selten die eine richtige Lösung gibt, sondern dass sich der optimale Ansatz entlang von Kultur, Datenschutz und Steuerungsanspruch formt.
- Zweck klären: Welche Fragen soll Zeiterfassung primär beantworten (Compliance vs. Steuerung)?
- Rollen definieren: Wer braucht welches Feld? Welche HR-Details dürfen niemals ins Projekt?
- Architektur wählen:
- Ein System, wenn Echtzeit-Steuerung & weniger Integrationen top-prior sind und Rechtemodell-Kompetenz vorhanden ist.
- Zwei Systeme, wenn Datenschutz/Organisation strikt trennen und BI-Konsolidierung etabliert ist.
- Datenmodell sauber schneiden: HR-Kontextfelder strikt begrenzen; Projektkontext reichhaltig; zwei Exportpfade (Payroll vs. Faktura).
- Pilotieren & messen: 4–6 Wochen Pilot mit einem Team; Metriken: Doppelerfassung, Korrekturen, Rechnungstreffer, Akzeptanz.
- Kommunikation & Schulung: Transparenz als Nutzen erklären; Quick-Wins (z. B. mobile Erfassung, Kalender-Sync) früh liefern.
Praxis-Tipp: Auch im integrierten System wie Time Cockpit lohnt sich eine strikte fachliche Trennung: getrennte Freigaben (HR ≠ Projekt), getrennte Exporte, protokollierte Zugriffe. So kombinieren Sie Live-Transparenz mit Datenschutz-Sicherheit.
9) Fazit: Wann integriert, wann getrennt – und warum oft „Hybrid“
Die Entscheidung zwischen Integration und Trennung ist keine rein technische, sondern eine strategische Weichenstellung. Sie beeinflusst nicht nur Datenschutz und Governance, sondern auch, wie transparent und steuerbar ein Unternehmen seine eigene Wertschöpfung versteht. In der Praxis zeigt sich: Weder völlige Trennung noch vollständige Integration überzeugen dauerhaft – doch Systeme, die beides intelligent verbinden, schaffen den besten Ausgleich zwischen Vertrauen, Effizienz und Steuerungsfähigkeit.
Integration lohnt sich, wenn Echtzeit-Transparenz, einheitliche Governance und reduzierter Integrationsaufwand im Vordergrund stehen. Sie ermöglicht ein konsistentes, faktenbasiertes Bild der Organisation – vom Projekt bis zur Payroll – und legt damit die Basis für belastbare Entscheidungen. Voraussetzung ist allerdings ein sauberes Rechtemodell und eine klare Kommunikation, dass Transparenz nicht Kontrolle bedeutet, sondern Zusammenarbeit erleichtert.
Trennung ist dort sinnvoll, wo Datenschutz oder organisatorische Zuständigkeiten absolute Priorität haben – etwa bei stark regulierten Branchen oder Konzernstrukturen mit eigenständigen HR- und Controlling-Abteilungen. In diesen Fällen lassen sich über BI- und Schnittstellenprozesse ebenfalls valide Gesamtsichten erzeugen, wenn auch mit mehr Aufwand und weniger Aktualität.
In der Realität zeigt sich aber häufig: Der hybride Ansatz ist der praktikabelste Weg. Er vereint die Vorteile beider Welten – ein System mit zwei streng getrennten Datenräumen, Feldmaskierungen, getrennten Freigaben und klar definierten Exportpfaden. So entstehen Transparenz und Effizienz, ohne dass Datenschutz oder Mitbestimmung leiden.
Bottom line: Zeiterfassung ist kein Kontrollinstrument, sondern ein strategisches Steuerungs- und Gesundheitsthema. Die Rechtslage macht die Arbeitszeit zur Pflicht (C-55/18 EuGH; 1 ABR 22/21 BAG; BMAS-FAQ; § 26 AZG). Die Leistungszeit macht Wertschöpfung sichtbar. Beides zusammen (technisch integriert, aber inhaltlich klar getrennt) liefert das zuverlässige Gesamtbild, das Management, HR, Controlling und Teams für fundierte Entscheidungen brauchen.
Quellen & weiterführende Links
- EuGH, C-55/18: Pflicht zu einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen System der täglichen Arbeitszeiterfassung (Curia, Pressemitteilung PDF)
- Bundesarbeitsgericht, 1 ABR 22/21: Einführungspflicht, Einordnung des Initiativrechts (BAG-Pressemitteilung)
- BMAS: FAQ Arbeitszeiterfassung: Umfang, Form, Verantwortlichkeit (BMAS FAQ)
- Österreich: § 26 AZG: Aufzeichnungs- und Auskunftspflicht (RIS Gesetzestext)
- BAuA: Arbeitszeiterfassung: Befunde der Arbeitszeitbefragung 2023 (Bericht kompakt) (BAuA Themenseite)
- Bitkom (06/2025): Drei Viertel der Unternehmen mit Arbeitszeiterfassung (Presseinfo)
- Hans-Böckler-Stiftung: Weit verbreitet, aber teils ohne System (Analyse & Einordnung)
- Kleinbetriebe ohne Erfassung: 60 % < 50 MA (historische Umfrage) (Telematik-Markt)
- Praxis: Nicht verrechenbare Zeiten: Hebel für Marge & Steuerbarkeit (Time Cockpit Blog)